Martha Wendisch (Pseudonym)
Gefährt*innen – Von der Freiheit einen Weg zu finden
Willkommen zum ersten Streifzug durchs Museum. Martha Wendisch wandert durch ihre Erinnerungen an ein Erleben, das außerhalb des Gewöhnlichen war und in die Psychiatrie führte. Und entlang der Museumsobjekte zeigt sie, was es heißt, offen zu fragen.
Vor einigen Jahren, ich merke die Erinnerung verblasst, saß ich an der Warnow. Ein Buch aus meiner Kindheit in der Hand schaute ich über das Wasser. Auf der anderen Seite des Ufers ist ein großer Hafen, aus dem ein Kran in die Höhe ragt. Auf diesem Kran steht »Liebherr«. Das Kreischen der Möwen spürend, den Wind fühlend, in enger Verbundenheit mit den Ereignissen der Natur und der Gegenwart eines Mahnmals menschlicher Zivilisation auf der anderen Seite des Ufers, saß ich. Ob es mir gut oder schlecht ging beschäftigte mich nicht, ich fühlte und ohne nach Zeichen zu suchen, fand ich sie. Folgte ihnen, ohne vom Zweifel ihrer Sinnhaftigkeit aufgehalten zu werden.
Ich wanderte, ich ging über Zäune, ich saß in fremden Autos, ich betrat mir nicht bekannte Häuser. Als ich die Straße entlanglief kam mir ein Polizeiwagen entgegen. Ein Beamter stieg aus und lief auf mich zu. Ich hatte das dringende Verlangen wegzugehen. Im Laufen sprach er mich an, lief neben mir her. Ich erinnere mich nicht was er sagte. Er folgte mir zu Fuß nach Hause. Ich zeigte ihm meine Papiere, er ging. Wieder trieb es mich nach draußen, wieder ans Wasser, wieder zum Schreien der Möwen und dem Knistern der Gräser.
Nach einer gewissen Zeit, diese spielte in ihrer genauen Rationierung keine Rolle für mich, erschien mein Vater. Ich blickte in seine angst- oder sorgeerfüllten Augen. Ich erinnere mich, dass ich ihm viele Fragen stellte, auf die er keine Antworten hatte. Dass er sie wirr fand, interessierte mich in diesem Moment nicht. Nach einer Weile ging ich mit ihm nach Hause. Ich merkte, dass die Enge des Hauses und darin keinen Himmel über dem Kopf zu haben, mich unruhig werden ließ. Mich zog es immer wieder nach draußen. Ich sang und schrie, räumte Gegenstände wild im Garten herum. Schatten.
Polizisten folgten mir in den Keller, redeten auf mich ein. Ich fand keinen Weg an ihnen vorbei nach draußen. Ich erinnere mich sie warteten auf eine weibliche Polizistin. Schatten.
Krankenwagen, an der Hüfte fixiert machte ich Yogaübungen. Sirenen. Geschwindigkeit. Schatten.
Ich saß auf dem Boden einer klinischen Einrichtung, alles war dumpf. Eingesperrt. Schatten.
Viele klinische Geschichten später wurde mir erzählt ich bin bipolar krank. Ich habe schizoaffektive Phasen. Scheiße ich fühlte mich wie eingegraben, 3 ½ Meter unter der Erde, der Kopf guckte aber raus. Offensichtlich schlägt das Herz, ich atme, esse und scheiße hin und wieder. Leben? Ist das Leben? Allein? Eine unsichtbare Schwere drückt mich ins Bett. Ich verlasse das Haus nicht. Lange, lange Zeit. Ich putze meine Zähne nicht, ich rauche alte Zigarettenstummel, ich dusche Wochen und Monate nicht, ich gehe nicht ans Telefon, ich ignoriere das Klopfen an der Tür, ich will nicht leben. Ich lebe doch gar nicht mehr. Ich will nicht stoffwechseln. Schatten und eine gefühlte Ewigkeit.
Ersatzobjekt
Höhe: | 1000 mm |
Breite: | 500–600 mm |
Tiefe: | 500–600 mm |
Farbe: | braun-schwarz |
Erhaltungszustand: | stark gebraucht, nicht mehr nutzbar, |
Material: | Metallgemisch (Eisen, Kupfer, Alu) |
Entstehungszeitraum: | 1970er-Jahre |
Handlungszeitraum: | 14.09.2001, ca. 4.05–4.10 Uhr |
Ort: | Wien, 1. Bezirk, Kärtner Durchgang Nr. 10 |
Koordinaten: | 48° 12' 25.819" N 16° 22' 16.514" E |
Stiftung: | 1. Quartal 2020 |
Inventarnummer: | 20A08 |
Museum Anderer Dinge, virtuell. Das heißt ein paar Klicks und ich betrete ein Museum. Ich schaue auf einen Ofen, er soll mal als Bombe die entschärft werden muss, gedient haben. Er war Teil eines Rätsels. Ein Rätsel und eine Entdeckung auf der Reise, die die Welt retten sollte. Heere Ziele. Sind sie Ausdruck ohnmächtiger Gefühle? Gibt die Rettung ein Stück Handlungsmacht zurück? Aufgespart in Rückzug und Grübelei? Was für eine einzigartige Erfahrung, in Handlungsmomenten so viel Macht in den Händen und im Erleben zu haben. Bestimmt auch anstrengend.
authentisches Objekt
Länge: | 1400 cm |
Breite: | min. 270 cm, max. 800 cm |
Konfektionsgröße: | 44 |
Gewicht: | 1900 g |
Farbe: | weiß |
Erhaltungszustand: | gut |
Material: | Polyester |
Entstehungszeitraum: | vermutlich 1990er Jahre |
Handlungszeitraum: | frühe 1990er Jahre |
Herkunft: | im Brautmodengeschäft gekauft; extra für sie von 1000 auf 500 DM heruntergesetzt |
Stiftung: | 3. Quartal 2019 |
Inventarnummer: | 19C02 |
Ich schaue weiter und entdeckte ein Hochzeitskleid. Ich habe lange gedacht, dass wenn ich je heiraten würde, dann nur um ein weißes Kleid zu tragen. Um die Schönste im Raum zu sein. Ich schaue auf das Brautkleid und bewundere so viel Mut. Warum sich die Erfahrungen nicht einfach selbst gestalten? Warum sich bremsen lassen, von dem was wir glauben es dächten die Anderen oder entspräche nicht den Konventionen? Warum sich nicht aus der Zwangsjacke des ersponnenen Bildes des Gegenübers befreien? Ich glaube, ich würde mir interessant aussehende Leute in der Bahn ansprechen und, falls sich ein spannendes Gespräch entwickelt, sie auf einen Kaffee einladen. Wer einmal im Berliner Feierabendverkehr, in dicht gedrängter U-Bahn, versucht jemanden in ein Gespräch zu verwickeln, kann sich die Blicke und Reaktionen vorstellen. Man hätte vieles, aber bestimmt kein Gespräch.
authentisches Objekt
Länge: | 120 mm |
Breite: | 90 mm |
Gewicht: | 26 g |
Farbe: | braun/beige |
Erhaltungszustand: | sehr gut |
Material: | Polyester |
Herkunft: | USA |
Stiftung: | 4. Quartal 2019 |
Inventarnummer: | 19D04 |
Ich blicke weiter und höre eine Nachtigall. Ich kenne die Erfahrung, dass mir Vögel und ihr Gesang Stimmen einer friedlichen Welt waren. Ich erinnere mich, wie ich eingeschlossen am Fenster sitze und das Gurren einer Taube höre. Die Taube sendet mir Friedenszeichen von der anderen Seite des vergitterten Fensters. Das Singen der Vögel reißt Mauern und geschlossene Türen ein. Und klar, eine Nachtigall als Weggefährte. Warum nicht? Bis heute habe ich erinnernde Empfindungen von Freiheit, wenn ich Tauben gurren höre.
authentisches Objekt
Name: | Margot |
Höhe: | 520 mm |
Breite: | 450 mm |
Gewicht: | 2010 g |
Erhaltungszustand: | gut, gepflegt |
Entstehungszeitraum: | 2019 |
Handlungszeitraum: | seit 2019 |
Herkunft: | Geschenk |
Stiftung: | 4. Quartal 2019 |
Inventarnummer: | 19D06 |
Und als ich weiter die Puppe Margot anschaue und lese: »Ich bin ein glücklicher Mensch, weil ich diese Grenze (zwischen Dingen und Vorstellungen) auslöschen kann.«, denke ich: Ja Du hast recht, was für ein Glück die allgemein gegenständlichen Grenzen zu überwinden. Das vermeintlich unbelebte mit Leben füllen und fühlen. Was für Türen sich für Gefährt*innen dadurch öffnen. Ein Geschenk.
So wie auch meine Erfahrung des Eins sein, ein Geschenk war. Ein zwar mich überforderndes Geschenk, weil sich kein Deutungsrahmen anbot, außer: Du bist krank. Dennoch, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mit zu vielen Medikamenten eingesperrt in der Rolle der Patientin festhänge, fühlte ich mich nicht »krank«. Warum kann eine von mir gemachte Erfahrung, nicht auch ein Objekt und eine Geschichte in einem Museum sein? Ein Ereignis in Zeit, welches nicht in Pathologie gefesselt wird?